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Einige Beispiele: Für das (julianische) Jahr 1488 kündigten alle Kalender Ostern auf den 6. April an; der cyklisch berechnete Vollmond war nämlich am 30. März, einem Sonntag. Die Astronomen hatten aber den Vollmond auf einen früheren Termin, nämlich Donnerstag den 27. März, morgens 3 Uhr, berechnet und verlangten daher die Feier des Osterfestes am 30. März. Als man schon in der Mitte der Fasten war, erhielt auch Papst Innocenz VIII. Kenntnis von diesem Streit. Aber dem kirchlichen Gebrauche gemäss, auch um die Fastenzeit nicht um eine Woche zu verkürzen, hielt er am 6. April als Tag der Osterfeier fest. — Im Jahre 1700 nahmen die Protestanten zwar die gregorianische Kalenderverbesserung, aber nicht die gregorianische Osterberechnung an, sondern bestimmten die Ostergrenze astronomisch mit Hilfe der von Kepler verfassten Rudolfinischen Mondtafeln. Infolgedessen feierten sie in den Jahren 1724 (Ostervollmond astronomisch am 8. April, Samstag, cyklisch am 9. April) und 1744 (Ostervollmond astronomisch am 28. März, Samstag, cyklisch am 29. März) acht Tage früher als die Katholiken, jene am 9. April bzw. 29. März, diese am 16. bzw. 5. April (s. oben S. 20). Abweichungen der cyklischen und astronomischen Berechnung weisen auch die Jahre 1825 und 1876 in der Weise auf, dass die verschiedenen Daten zwei Wochen angehören; ihre cyklischen Ostergrenzen sind der 2. April (Samstag) und der 9. April (Sonntag), die astronomischen der 3. April (Sonntag) und der 8. April (Samstag). Am interessantesten ist das Jahr 1905. Hier fiel der Vollmond, astronomisch bestimmt, wie in allen Kalendern angegeben war, auf den 21. März (Frühjahr), cyklisch berechnet auf den 20. März (Winter); es musste daher der nächste am 19. April (Mittwoch) eintretende Vollmond in Rechnung gestellt und somit Ostern am 23. April gefeiert werden.[1] Hätten etwa die Protestanten heute noch die astronomische Ostervollmondsbestimmung wie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, so würden sie den 21. März zur Ostergrenze gemacht und Ostern am 26. März, also 4 Wochen vor den Katholiken, gefeiert haben.[#]

Häufiger, ja fast beständig, ist wegen der Nichtbeachtung der Sonnen- und Mondgleichung das Abweichen der cyklischen Ostergrenzen von den astronomischen im julianischen Stil. Daher sind die julianischen Ostertage von den gregorianischen im 20. Jahrhundert (1900 — 1999) 74 mal verschieden; das jul. Osterfest wird nämlich 48 mal eine Woche, 5 mal (in den Jahren 1902, 1926, 1970, 1994, 1997) vier Wochen und 21 mal (in den Jahren 1907, 1910, 1913 usw.) sogar fünf Wochen nach dem gregorianischen Ostertermin gefeiert. Nur 26 mal, nämlich in den Jahren 1906, 1909, 1912, 1915, 1916, 1919, 1922, 1930, 1933, 1936, 1939, 1942, 1943, 1946, 1950, 1953, 1957, 1960, 1963, 1966, 1974, 1977, 1980, 1984, 1987 und 1990, haben beide Kalenderstile denselben Ostertag (natürlich nicht das gleiche Datum desselben).


1 Diejenigen, denen die cyklische Berechnung der Monddaten unbekannt war, glaubten, dass das Osterfest des Jahres 1905 auf einen unrichtigen Tag angesetzt sei — dieserhalb wurden damals viele Anfragen an mich gerichtet — oder suchten das vermeintliche Abweichen von der sonst geltenden Osterregel auf irgend eine Weise zu erklären. Die "Kölnische Volkszeitung" (1905 Nr. 312 und 330) brachte darüber zwei grössere Artikel; der erste hat das Richtige nicht getroffen, der zweite auf Umwegen den zutreffenden Grund gefunden.
# Hier sei mir eine kleine Anmerkung zum Originaltext gestattet. Nach jerusalemer Ortszeit fiel der Frühlingsanfang auf 8.57 Uhr während der Vollmond bereits um 6.54 Uhr eintrat. Somit wäre das astronomische Osterfest doch am 23. April anzusetzen.