Das Radfahren in gesundheitlicher Beziehung

Das Radfahren in gesundheitlicher Beziehung ist vom Kreisphysikus Dr. Steger in der Naturforschenden Gesellschaft zu Danzig erörtert worden, 1) wobei das sogenannte Rekordfahren ausser Betracht blieb, da es keinesfalls der Gesundheit zuträglich ist.

»Für den normalen Menschen«, sagt Dr. Steger, »sind es drei Anforderungen, welchen das Radfahren in glücklicher Vereinigung genügt, einmal ist es das unabhängigste und wohlfeilste Beförderungsmittel, dann dient es als gymnastische Übung und endlich ist es ein Mittel zur geistigen Erfrischung, durch welches Gelegenheit gegeben ist, aus der Enge der Stadt in die günstigen hygienischen Bedingungen der freien Natur zu gelangen. Der Mensch soll zur Natur zurückkehren, so lautet eine alte und wahre Lehre Rousseaus.

Das Rad hat sich im letzten Jahrzehnt die Welt erobert, es ist im Verkehr und Gewerbe unentbehrlich geworden. Mächtige Industrien verdanken allein dem Rade ihre Existenz. Das Rad ist das bisher vermisste, endlich gefundene Gefährt, welches das vielseitige Getriebe des Kleinverkehrs sicher, prompt, unter unermesslichem Gewinne an Zeit und Material vermittelt, und dadurch den Satz »Zeit ist Geld« wahr macht. Aber nicht nur als Verkehrsmittel spielt das Rad eine bedeutende Rolle, sondern auch als Kulturmittel. Ein grosser Teil der Bevölkerung nimmt bei uns gesundheitswidrige Lebensgewohnheiten an. Die Anforderungen, welche die Kultur der Jetztzeit an die geistige Ausbildung des Menschen stellt, zwingen denselben schon von Jugend an zum Stillsitzen, zuerst in der Schule, dann in den Bureaux, am Studiertisch, in den Arbeitssälen u. s. w. So geht der Trieb und die Fähigkeit zu ausgiebiger Körperbewegung bei den meisten Menschen mehr oder weniger verloren. Die modernen Verkehrsmittel, Pferde- und elektrische Bahnen, Omnibus, ferner das moderne Wirtshausleben begünstigen das Stubenhockertum. Hinzu kommt noch die Ungunst unseres Klimas. Während der Südländer die meiste Zeit im Freien verlebt, sind wir gezwungen, ein gut Teil des Jahres in geschlossenen Räumen zu verbringen. Die Städte sind es insbesondere, die Schuld an diesem chronischen Stubensitzertum haben, aber es mag wohl auch viel an dem Charakter der Deutschen liegen, sie werden schon von den Römern als die »Bärenhäuter« geschildert.

In der Mitte des 17. Jahrhunderts erfanden der Zirkelschmied Hantsch in Nürnberg und ein gelähmter Uhrmacher Farfler in Altdorf bei Nürnberg Wagen, deren Vorderräder vom Innern des Wagens aus durch Handkraft mittels Kurbeln und einer entsprechenden Übertragung bewegt wurden. Das Prinzip, die unteren Extremitäten zur Fortbewegung zu verwenden, ist einem französischen Arzt, Richard aus La Rochelle, zu verdanken, er erfand das Treten auf Pedale. Eine schnellere Lokomotion mittels eines Fahrrades erfand der badische Forstmeister Karl v. Drais im Jahre 1817, er konstruierte ein Laufrad; dasselbe bestand aus zwei hinter einander befindlichen Rädern, welche durch ein mit Sattel versehenes Zwischengestell verbunden sind; die Fortbewegung geschah durch Abstossen der Füsse vom Erdboden, am Vorderrade wurde gelenkt. Ein altes Bild aus dem Jahre 1820 giebt eine Darstellung von Fahrradübungen in einer Art von »Velodrom « Die im Eisenbahnbetriebe befindlichen Draisinen haben den Namen des Erfinders noch heute. Jenes Laufrad ist der Prototypus des heutigen Fahrrades. Erst im Jahre 1867 brachte Michaud auf die Pariser Weltausstellung ein Fahrrad mit einem wesentlichen Fortschritt, es hatte Pedale am Vorderrad, die mit den Füssen getreten wurden. Der erste Besteller eines solchen Fahrrades war der Kaiser Napoleon III., der erste Fahrer Louis Napoleon. Von dieser Zeit her datiert die Epoche des Fahrrades.

Prinzipielle Änderungen sind seitdem nicht gemacht worden, nur hat man Kurbel und Pedale nicht am Vorderrad, sondern den Kurbelmechanismus zwischen den Rädern, direkt unter dem Sitzenden, gesondert angebracht; von ihm aus wird die Bewegung mit Hilfe einer Kette ohne Ende, welche in Zahnräder eingreift, auf die Achse des Hinderrades übertragen. Weitere Verbesserungen waren solche des Materials, sodass das Gewicht des Rades erniedrigt wurde, ferner des Trittmechanismus, möglichste Beseitigung der Reibungskoeffizienten, soweit diese im Rade selbst liegen, u. a. m. Die Leistung eines Fahrrades hängt von seiner Übersetzung ab, diese beruht auf dem Verhältnis der Grösse des Kurbelachsenzahnrades zur Grösse des Hinterradzahnrades. Die Grösse der Übersetzung findet man, wenn man die Höhe des Hinterrades (in englischen Zollen) mit der Zahl der Zähne des Kurbelachsenrades multipliziert und die so erhaltene Summe durch die Zahl der Zähne des Hinterachsenzahnrades dividiert. Ist ein Rad auf 64″ übersetzt, so heisst das: das Niederrad ist auf ein Hochrad von 64 englischen Zoll Höhe übersetzt, legt also bei einer Kurbelachsenumdrehung, d.h. bei einem Doppeltritt, denselben Weg zurück, den ein 64 englische zoll hohes Rad bei einer Umdrehung zurücklegt. Dieser Weg ist = 2 r • π, d. h. 3.14 des Raddurchmessers, also 64 x 3.14 Zoll = 5.11 m. Ein auf 72″ übersetztes Niederrad legt bei einem Doppeltritt einen Weg von 5.75 m zurück.

Zu einer solchen Leistung gehört natürlich ein gewisser Grad von Kraftanstrengung. Vergegenwärtigt man sich die Kraftleistung eines Radfahrers auf einer gewöhnlichen ebenen Strasse nach den feststehenden Formeln für die Reibung auf ebener Unterlage, so leistet ein Radfahrer beim Zurücklegen von 1 km eine Arbeit von 1900 —2000 Kilogrammometer (bekanntlich ist ein Kilogrammometer diejenige Arbeit, welche geleistet wird, wenn 1 kg 1 m hoch gehoben wird). Ein Fussgänger leistet beim Zurücklegen einen gleichen Weges eine Arbeit von 6000 Kilogrammometer, also bedarf ein Radfahrer zu Erreichung desselben Zweckes nur eine Leistung welche 1 ⁄3 der eines Fussgängers ist. Legt ein Fussgänger in einer Stunde 5 km zurück, so kann ein Radfahrer in derselben Zeit und auf gleichem Wege 15 —18 km machen. Auf abschüssigem Terrain ist die Leistung eine erheblich grössere, der Radfahrer kann 30—40000 Kilogrammometer = 20—24 km in einer Stunde leisten.

Die Arbeit des Radfahrens geschieht durch Muskelthätigkeit. Diese besteht einmal darin, dass die aufrechte Haltung bewahrt, das Gleichgewicht erhalten und die Lenkung besorgt wird, ferner in der eigentlichen Fortbewegung. Was die erstere Thätigkeit betrifft, so ist eine Anspannung der Rückenmuskulatur und festes Halten mittels der Armmuskulatur wegen der fortwährenden Verlegung des Schwerpunktes notwendig, und diese Kraftäusserung ist nicht gering anzuschlagen, vielmehr bewirkt sie eine solche Übung der genannten Muskeln, dass das Radfahren trotz der grösseren Beteiligung der Muskeln der unteren Extremitäten nicht als eine einseitige Gymnastik erachtet werden kann. Das eigentliche Treten des Rades zum Zweck der Lokomotion ist zu vergleichen mit einem » Treppensteigen im Sitzen, « und zwar werden Stufen von gleicher Höhe, als die Pedale voneinander entfernt sind (25 cm) überwunden, nur dass hier die Stufe nach unten ausweicht, sodass keine Hebung des Körpers zustande kommt, sondern die entwickelte Kraft das Fahrrad in horizontaler Richtung fortbewegt. Dabei dient nur das Abwärtstreten zur Ausführung der Kraftleistung, eine aktive Hebung des Fusses ist nicht erforderlich, sondern diese geschieht durch das alternierende Senken des anderen. Es werden daher die Streckmuskeln des Hüft-, Knie-und Fussgelenkes in Thätigkeit gesetzt. Beim Gehen werden die entgegengesetzten Muskeln, die Beuger, gebraucht, daher ergänzen sich beide Bewegungsarten in vorzüglicher Weise; das Radfahren ist eine andere Kraftäusserung als das Gehen, es löst das letztere ab und umgekehrt. Daher ist das Absteigen während der Fahrt so ausserordentlich nützlichund angenehm, weil es die beim Fahren gebrauchten Muskeln entlastet und ausruhen lässt.

Eine Folge der gesteigerten Thätigkeit der Beinmuskulatur ist ihr Wachstum, das Dickwerden und straffe Verhalten der Muskeln, vermittels deren die unteren Extremitäten zu Dauerleistung befähigt sind, währen beim Erlernen, zur Zeit, wenn die in Funktion tretenden Musklen noch nicht genügend gestärkt sind, leicht Ermüdung eintritt und das Radfahren »schwer « erscheint. Das Radfahren hat ferner erheblichen Einfluss auf den Stoffwechsel. Die Gewebe werden stärker oxydiert und daher wird Steigerung der Stickstoffausscheidung infolge Eiweisszersetzung, Wasserausscheidung und Entfettung bewirkt. Der Radfahrer Stephane hatte in 24 Stunden einen Weg von 673316 m = 90 Meilen zurückgelegt und dabei 6.75 kg abgenommen. Jedoch sei erwähnt, dass das Radfahren an sich nicht einer Entfettungskur gleichwertig ist, weil der entstehende Wasser- und Eiweissverlust zu einem unmittelbaren Ersatz dieser Stoffe nach der Tour verleitet, sondern dass, um Entfettung durchzuführen, neben dem Radfahren die Einleitung einer Diätkur Notwendigkeit ist. Was die Verdauung betrifft, so wird sie durch das Radfahren gesteigert. Wer einen Radfahrer nach der Tour essen gesehen hat, kann dieses bestätigen, dem Radfahrer schmeckt »kein kleiner Bissen « mehr; infolge des Wasserverlustes wird das Durstgefühl in angenehmer Weise erhöht; Verstopfung tritt nicht ein, der Radfahrer bedarf keiner Schweizer Pillen denn der Leib wird durch das stete Auf- und Niedergehen der Beine massiert.

Die wesentlichste Rückwirkung hat das Radfahren auf Atmung und Herzthätigkeit. Beide werden beim vernunftmässigen Radfahren angeregt, die Atmung wird tiefer und ausgiebiger, die Herzthätigkeit kräftiger, die Lungen werden besser ventiliert, infolge der gesteigerten Muskelarbeit tritt reichlichere Kohlensäure-Ausscheidung, reichlichere Sauerstoffaufnahme ein. Ist die Anstrengung dagegen eine übermässige, so entsteht Kurzatmigkeit (Dyspnoe) und Versagen der Respiration. Leuten, die an Lungenschwindsucht, Lungenerweiterungen und Luftröhrenentzündungen leiden, ist das Radfahren daher nicht erlaubt

Auf das Herz hat das Radfahren in zweierlei Hinsicht Einfluss, es bewirkt eine Steigerung des Blutdruckes, hervorgerufen durch die Muskelthätigkeit, ferner eine Beschleunigung der Herzthätigkeit. Die Erhöhung des Blutdruckes hat eine bessere Ernährung der inneren Organe und Gewebe zur Folge, die Gefässe erweitern sich, die folgende Erschlaffung der Gefässwände bringt reichlichen Schweiss und' damit Wasserverlust des Körpers hervor. Übermässige Anstrengung beim Radfahren hat ganz erhebliche Steigerung des Blutdruckes und starke Beschleunigung der Herzthätigkeit zur Folge, der Puls steigt von 70—80 auf 140—160, 200 Pulse sind nichts Seltenes, und auch 250 Pulse in der Minute sind schon beobachtet worden. Überanstrengung des Herzens tritt ein durch längeres schnelles Fahren, aber auch durch Überwinden von Steigungen, wenn dieses in forciertem Grade geschieht, weil dabei die Kraftanstrengung eine in der Zeiteinheit erheblich grössere ist, als die eines Fussgängers. In derartiger Überarbeit des Herzens liegt eine Gefahr für den Radfahrer, Herzerweiterung und Herzvergrösserung, nervöses Herzklopfen, irritable heart, sind die Folgen. Nach akuten heftigen Anstrengungen beim Radfahren hat man mittels des Röntgen-Verfahrens beträchtliche Vergrösserung der Herzgrenzen direkt sehen können. Daher mehren sich die Beispiele von Herzschlag und Herzkrankheit infolge angestrengten Radfahrens, und wie es eine »Bergkrankheit« nach excessiven Gebirgstouren giebt, so kann man von einer »Radfahrerkrankheit« nach übermässiger Anstrengung beim Radfahren sprechen. Sie besteht in Herzklopfen, unregelmässiger Herzthätigkeit, verringerter oder beschleunigter Pulsfrequenz, Gefühl der Schwäche bei geringen Anstrengungen, z. B. beim Berganfahren, Blässe des Gesichtes, Beklemmungen und Circulationsstörungen. Herzkranken, Greisen, deren Gefässwandungen krankhaft kalkig verändert sind, aber auch Kindern und Knaben bis zu 15 Jahren, deren Herzthätigkeit einen besonderen Grad von Empfindlichkeit besitzt, ist das Radfahren zu widerraten. Hingegen lassen sich Gegengründe sanitärer Art gegen das Radfahren der Damen an sich nicht geltend machen, im Gegenteil wirkt gerade des Umstand, dass dem weiblichen Geschlecht, welches nach Massgabe der bestehenden Vorurteile noch zu sehr an das Haus gebunden ist, Gelegenheit geboten ist, in der freien Natur frische Luft zu schöpfen, in höchstem Grade günstig. Bedingung ist beim Radfahren der Damen freilich, dass alle beengenden Kleidungsstücke wegfallen, damit die Atmung frei und die Blutcirkulation ungehindert sei. Das Geheimnis eines gesundheitsmässigen Radfahrens liegt also, wie bei jedem Sport, im allgemeinen in einem vernunftmässigen Verhalten, wozu auch die gerade, oder vielmehr ganz leicht vorgebeugte Haltung des Oberkörpers gehört, im besonderen aber in einem richtigen Masshalten; stets soll der Radfahrer mit möglichst geringer Anstrengung fahren, nie seine volle Kraft einsetzen. Bestimmte Masse lassen sich als Richtschnur nicht angeben, es dürfte aber zu vermeiden sein, dass die Atmung eine solche von mehr als 20 Respirationen, die Pulsfrequenz höher als 100 Pulsschläge in der Minute ist. Geschieht das Radfahren in vernünftiger Weise, so bleiben die Vorteile nicht aus. In unserem Zeitalter der Neurasthenie schwinden die Symptome der Nervenschwäche, die Selbstbespiegelung der Neurastheniker fällt wegen der beim Radfahren stets notwendigen Aufmerksamkeit auf Menschen, Weg und Umgebung fort, beim Gesunden tritt geistige Erholung ein, weil das Gehirn entlastet wird, die Vermehrung der Körperkraft und das Bewusstsein derselben wirkt fördernd auf Mut und Entschlossenheit, Vorsicht und Geistesgegenwart, und damit festigt sich der Charakter, und die allgemeine Gemütsstimmung wird eine zufriedene, heitere. «

1) Schriften der naturf. Ges. in Danzig 1899, S. LVIIL

Velociped

Quelle: – Gaea – Natur und Leben
Centralorgan zur Verbreitung naturwissenschaftlicher und geographischer Kenntnisse sowie der Fortschritte auf dem Gebiete der gesamten Naturwissenschaften
Unter Mitwirkung hervorragender Fachmänner herausgegeben von Dr. Hermann J. Klein in Köln a. Rh.
XXXVI. Jahrgang 1900
Eduard Heinrisch Mayer, Verlagsbuchhandlung Leipuig, Rossplatz 16.
Seite 507 – 510

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